Ein Beitrag von Katarina Greifeld
In: Medizinethnologie. Eine Einführung (Herausgeber Katarina Greifeld)
Ethnologie und ganz besonders Medizinethnologie sollte für alle verständlich sein. Es werden typische Themen und Debatten dargestellt, die innerhalb der Medizinethnologie und teilweise auch in ihren Schnittmengen mit der Religionsethnologie (wie z. B. Schamanismus) oder anderen Subdisziplinen der Ethnologie (wie Verwandtschaftsethnologie mit dem Komplex der Leihmutterschaft)diskutiert werden. Eines der Handwerkszeuge der Ethnologie, nämlich die kritische Reflexion der uns umgebenden „Wirklichkeit“ sowie ein offenes Ohr für Erklärungen, die nicht notwendigerweise genuin unseren gewohnten und/oder „wissenschaftlichen“ Erklärungsmodellen folgen, wird in allen Kapiteln genutzt. Dies wird an verschiedenen Themen aufgezeigt, die Schlüsselthemen der Ethnologie sind, wie z. B. an Ritualen, die es ganzunterschiedlich in allen menschlichen Gemeinschaften gibt und die
sinnstiftendwährend bestimmter sozialer Interaktionen wirken.
Rituale sind also nichts, was nur in als „rückständig“ bezeichneten Gemeinschaften durchgeführt wird, vielmehr erneuern sie sich stetig und werden den neuen Lebenswirklichkeiten angepasst. Das gilt für den Schamanismus ebenso wie für „neue“ Krankheiten, die es so früher nicht gab. Stichworte sind dazu Bulimie, Malaria oder Diabetes, die einer spezifischen Einordnung bedürfen. Nach wie vor bedeutsam ist auch die Diskussion um den medizinischen Pluralismus, der mittlerweile weltumspannendauftritt und eine Situation beschreibt, in der unterschiedliche medizinische Systeme aufeinandertreffen, und der Gesunde wie Kranke dazu auffordert, bestimmte Haltungen einzunehmen. Anders gesagt wird damit verdeutlicht, dass unsere verschiedenen Lebenswelten mit ihren Philosophien und Einstellungen miteinander kommunizieren und damit zu spezifischen Sinnwelten werden.
Die Nutzung unterschiedlicher medizinischer Systeme lässt sich in allen heutigen Kulturen nachweisen, eine Folge der viel beschworenen „Globalisierung“ und ihrer Beschleunigung, die das Reisen von Personen und Ideen in den letzten Jahrzehnten erheblich erleichtert hat.
Medizinethnologie fokussiert also nicht nur nach außen, in das vermeintlich Fremde, sondern findet Themen und Diskurse gleichfalls bei uns. Diese Themensind nicht weniger exotisch und häufig fremd, alle sind sie ethnologischem Forschen zugänglich. Hierzu gehört etwa auch das interdisziplinäre Thema „Medizin und Migration“, das insbesondere im biomedizinischen Kontext hierzulande auftaucht, wenn sich der fremdländische Patient dem Arzt nichtrecht verständlich machen kann. Medizinethnologie kann dazu beitragen, wichtige Begriffe in ihrem Kontext zu analysieren und sie wissenschaftlicher Diskussion zugänglich zu machen. Die Nutzung der Begriffe „Gesundheit“ und „Krankheit“ illustrieren gut, wie ein veränderter Kontext die Begrifflichkeit ändert. So wird heute in der „Gesundheitsversorgung“ meistens Krankheit gemeint, wenn von Gesundheit gesprochen wird. So brauchte es eigentlich die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht, denn wozu sollten Gesunde medizinisch versorgt werden, wenn es sich nicht tatsächlich um Krankenversorgung handelte. Gleiches gilt für die neuerdings aufkommenden „Gesundheitskassen“, die ja doch eigentlich Krankenkassen sind und für die Versorgung im Krankheitsfall gedacht waren. Die erkenntnistheoretischen Bedeutungsfelder in ihren verschiedenen Dimensionen sind Teil der Arbeit von Medizinethnologen, die sich, auch den eigenen medizinischen Systemen zuwenden können.
Nach der Einführung (Kapitel 1) zeigt Josef Drexler im 2. Kapitel mit dem Titel „Einführung in die Medizinethnologie Südamerikas“, dass es ein Südamerika in diesem Sinne eigentlich nicht gibt, sondern sehr unterschiedliche Konzepte von Dingen, Personen, Gesundheit und Krankheit, die er am Beispiel der Lebenswelten der Menschen im amazonischen Tiefland und den Anden weiter ausführt. Verena Keck beschreibt im 3. Kapitel, wie vielfältig und vielschichtig Gesundheit und Krankheit in Ozeanien erlebt werden, und dies nicht nur bezogen auf die verschiedenen Medizinen oder Medizinsysteme, sondern auch auf Nahrung und Ernährung. Die Diskussion um HIV/AIDS wird dargestellt, wobei im Mittelpunkt dieses Kapitels vor allem chronische Erkrankungen stehen. Das 4. Kapitel „Krankheit und Gesundheit in Afrika: Aspekte an der Schnittstelle von Anthropologie und Medizin“ von Ruth Kutalek bezieht sich im Wesentlichen auf Ostafrika und geht zunächst auf die Kolonialmedizin ein. Das damals bereits herrschende Klassensystem zwischen einfacher Medizin für die Armen und Einheimischen und der besseren für die Verwalter und Wichtigen unterscheidet sich nicht wesentlich von der heutigen Situation. Nicholas Eschenbruch zeigt im 5. Kapitel, wie sich die Biomedizin als vorherrschendesmedizinisches System in Europa etabliert hat. Dazu erläuterter zunächst ihre historische Entstehung und zeigt, dass „biomedizinische Auffassungen und Praktiken … Teil der naturwissenschaftlich geprägten Kosmologie zeitgenössischer (post-)industrieller Gesellschaften (sind)“. Dieser Zusammenhang macht sie für die Medizinethnologie interessant, sind wir doch meistens der Meinung, dass „unser“ Körperbild das einzig Richtige ist, wie das ja auch die verschiedenen in der Biomedizin genutzten bildgebenden Verfahren zeigen. Das 6. Kapitel teilt sich in zwei Teile, ziemlich naturgemäß, da es zum einen um die Beschneidung von Mädchen und Frauen geht, zum anderen um die von Jungen und Männern. Das Thema ist seit Jahren mit Emotionen belastet und nur schwer öffentlich zu diskutieren, weil sofort Werte und Wertungen eingeführt werden. Die Autoren dieses Kapitels hinterfragen diese Diskussionen, die im Hinblick auf die Geschlechter durchaus unterschiedlich geführt werden. Der zweite Teil des Kapitels von Petra Pfnadschek und Armin Prinz geht der Frage nach, wie es dazu gekommen ist, dass die Biomedizin einen der ältesten chirurgischen Eingriffe in der Geschichte der Menschheit, die Beschneidung von Männern, zu einem für sie so wichtigen Thema macht, dass auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) diese empfiehlt. Der Aspekt der Schönheit, Macht und Kontrolle fällt noch deutlicher in Bezug auf Mädchen und Frauen aus, wie Katarina Greifeld anhand einer ethnologischen Studie aus dem westafrikanischen Mali illustriert. Hierbei wird deutlich, dass nicht alles, was in Europa als gut, gesund und schön empfunden wird anderswo auch so gesehen wird.
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Literaturhinweis:
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