Wie man komplexe Verletzungen mit einfachen Mitteln erfolgreich behandelt.
Der steirische Anästhesist Johannes Smonig war 2013 auf seinem ersten Einsatz mit Ärzte ohne Grenzen in Haiti. Dort arbeitete er im Traumazentrum in der Hauptstadt Port-au-Prince, wo Unfall- und Gewaltopfer kostenlos chirurgisch versorgt werden. Im Herbst 2015 kehrte er erneut dorthin zurück und berichtet im Einsatzblog von der Hilfe vor Ort.
Ärzte ohne Grenzen ist seit 1991 in Haiti tätig und am Aufbau eines funktionierenden Gesundheitswesens beteiligt und versucht, Lücken im Gesundheitssystem zu schließen. Durch das Erdbeben am 12. Jänner 2010 wurden 60 Prozent des ohnehin sehr schwachen Gesundheitssystems mit einem Schlag zerstört.
Ärzte ohne Grenzen musste daher die Hilfsaktivitäten neu strukturieren, baute Behelfskrankenhäuser aus Containern, arbeitete in provisorischen Unterkünften und errichte eine aufblasbare Klinik in Leogane, dem Epizentrum des Bebens.
Kein ausreichender Zugang zu Gesundheitsversorgung
Im Grunde hat der überwiegende Teil der Menschen in Haiti noch immer keinen ausreichenden Zugang zu grundlegender Gesundheitsversorgung. Um nur ein Beispiel zu nennen: Das Universitätskrankenhaus – das einzige öffentliche Krankenhaus im Land, das orthopädische Chirurgie anbietet – ist noch immer nicht vollständig wiederaufgebaut. Es kann daher nicht in voller Kapazität arbeiten, es gibt gravierende organisatorische Mängel. Darüber hinaus wurde zwar Geld für den Bau neuer Krankenhäuser investiert, doch einige stehen leer. Der Grund dafür ist, dass niemand ausreichende Pläne entwickelt hat, damit genügend ausgebildete Fachkräfte sowie Medikamente und medizinisches Material zur Verfügung stehen oder Wartungsarbeiten durchgeführt werden können.
2015 betreibt Ärzte ohne Grenzen weiterhin drei Krankenhäuser in der Hauptstadt Port-au-Prince: Ein Traumazentrum im Stadtteil Tabarre, ein Zentrum für Geburtshilfe in Delmas und ein Zentrum für Brandverletzte in Cite de Soleil. Diese drei Einrichtungen bieten spezialisierte Versorgung auf hohem Niveau an.
Unfallchirurgie im Traumazentrum Tabarre
Trotz der starken Gewalt in den Städten, trotz häufiger schwerer Verkehrsunfälle, trotz des dramatischen Anstiegs von Unfallopfern – von 2002 bis 2012 eine Verdoppelung auf einen Unfalltoten pro 10.000 Einwohner – gibt es praktisch keine unfallchirurgische Versorgung. Mit dem Traumazentrum Tabarre schließt Ärzte ohne Grenzen diese Lücke im haitianischen Gesundheitssystem.
Meine Aufgabe in Tabarre war es, die erst im Jahre 2014 eingerichtete Intensivstation mit derzeit neun Betten zu betreuen und die Ausbildung der im Krankenhaus beschäftigten haitianischen Anästhesisten voranzutreiben. Es ist wichtig, rasch zu erkennen, wo Schulungs- und Verbesserungsbedarf besteht und entsprechend darauf zu reagieren. Das Interesse zu lernen ist groß, aber die lokalen Ärzte sind auch sehr stolz auf das von ihnen bisher erreichte. Es ist also sehr wichtig, mit Respekt und Fingerspitzengefühl vorzugehen, um von den einheimischen Ärzten akzeptiert zu werden. So war es mir wichtig, gute persönliche Beziehungen aufzubauen und auf Augenhöhe mit den Kollegen und Kolleginnen vor Ort zusammenzuarbeiten, um auch die notwendige Akzeptanz für neue Ideen und Verbesserung der Patientenversorgung zu bekommen und diese auch durchzusetzen. Die Intensivstation war immer bis über Limit ausgelastet – wegen der zahlreichen, oft schweren Unfälle mit multiplen Brüchen und Weichteilverletzungen und aufgrund häufiger Schießereien. Wir hatten täglich rund fünf Schussverletzte, darunter auch Frauen und Kleinkinder, die von verirrten Kugeln getroffen wurden. Die drei vorhandenen Beatmungsgeräte reichen daher oft nicht aus, was dazu führt, dass man oft gezwungen ist, zu improvisieren und medizinische Entscheidungen der vorhandenen Infrastruktur anzupassen.
Es ist erstaunlich, wie man auch mit beschränkten Mitteln sehr komplexe und schwierige Krankheitsbilder erfolgreich behandeln kann, wenn es gelingt, die vorhandenen Mittel optimal für die Patienten einzusetzen.
Ausbildung lokaler Ärzte und Ärztinnen
Das Traumazentrum Tabarre von Ärzte ohne Grenzen ist auch die einzige Gesundheitseinrichtung, in der so genannte „Osteosynthesen“ durchgeführt werden können – also Operationen, bei denen zwei oder mehr Knochen oder Knochenfragmente miteinander verbunden werden, damit diese zusammenwachsen. Es gibt hier auch die einzige funktionierende Intensivstation mit der Möglichkeit zur künstlichen Beatmung.
Das bedeutet, dass Ärzte ohne Grenzen nicht nur zur Versorgung der Bevölkerung beiträgt, sondern auch einen wichtigen Beitrag zur Ausbildung haitianischer Ärzte leistet. So gibt es beispielsweise eine Kooperation mit der einzigen haitianischen Medizin-Universität, die es Studenten und Fachärzten ermöglicht, zeitgemäße Methoden der operativen Versorgung von Unfall- oder Gewaltverletzten zu erlernen.
Im Jahr 2014 hat Ärzte ohne Grenzen allein im Krankenhaus in Tabarre 1.325 Patienten und Patientinnen mit Gewaltverletzungen und fast 6.500 mit Unfallverletzungen behandelt, im ersten Halbjahr 2015 sind die Zahlen weiter deutlich angestiegen.
Der Arzt und Anästhesist Johannes Smonig aus der Steiermark war über 20 Jahre lang in leitender Funktion an einer Grazer Privatklinik tätig. Bei seinem ersten Einsatz mit Ärzte ohne Grenzen war er 2013 in Haiti – sein zweiter führt ihn Anfang 2015 als Anästhesist in die Zentralafrikanische Republik.
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Dieser Beitrag wurde mit freundlicher Genehmigung von Ärzte ohne Grenzen Österreich sowie mit Zustimmung des Autors / der Autorin auf www.goinginternational.eu veröffentlicht. Lesen Sie hier weitere aktuelle Erfahrungsberichte österreichischer Einsatzkräfte der weltweit tätigen Hilfsorganisation: https://www.aerzte-ohne-grenzen.at/aktuelles/blog
Veröffentlicht in GI-Mail 09/2016 (Deutsche Ausgabe). Abonnieren Sie GI-Mail hier.
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